"Ein Gaspedal, aber kein Bremspedal" |
Informative Podiumsdiskussion zum Thema ADS mit zahlreichen Fachleuten |
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Dingolfing. „Herr Merz sagte mir, es könne nicht rechtens sein, wenn Kinder während des Unterrichts Medikamente schlucken, um die Aufmerksamkeit zu fördern. Früher hätte man ebenso lebhafte Kinder in den Klassen gehabt, mit denen wäre man auch anderweitig fertig geworden", so Irene Egleder. Von daher dachte man sich, man müsse etwas unternehmen. Eine Podiumsdiskussion mit verschiedenen Fachleuten bezüglich des Aufmerksamkeits-Defizit-Syndroms, ADS, sowie des Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom, ADHS, wurde vergangenen Montag in der Grundschule Altstadt veranstaltet. Aufmerksamkeitsstörung mit und ohne Hyperaktivität ist weltweit die häufigste psychische Störung im Kindesalter. In Deutschland sind laut Bundesministeriums für Gesundheit und soziale Sicherheit rund fünf Prozent der Kinder und Jugendlichen zwischen sechs und sechzehn Jahren und zwei Prozent der Erwachsenen von, dieser Hirnstoffwechselstörung betroffen, erklärte Irene Egleder in einer Pressemitteilung. Welche Symptome weisen die Kinder Und Jugendlichen auf? Dr. Christoph Löffler, Kinder- und Jugendpsychiater sowie Brigitte Eder, eine staatliche Schulpsychologin, erläutern diese Symptome: Die Kinder sind dauernd in Bewegung, ablenkbar, erregbar, ungebremst und reden „wie ein Wasserfall". Sie können nicht still sitzen, nicht zuhören, nicht folgen, nicht warten, nicht verlieren und sich nicht einfügen. „Kinder mit Aufmerksamkeitsstörungen werden von Gleichaltrigen häufig ausgeschlossen, obgleich sie sehr lieb und treu sind. Deswegen schließen sie sich häufig Älteren an" , weiß Brigitte Eder. Ein gesundes Selbstwertgefühl können die Kinder auf Grund des katastrophalen Sozialverhaltens nicht ausbilden. Die Kinder sind einem erhöhten Unfallrisiko ausgesetzt, denn sie erkennen Grenzen und Gefahren nicht. Ein schulisches Weiterkommen behindert oft Teilstörungen wie Lese- und Rechtschreibschwächen. „Doch die Kinder verfügen ebenso über eine unglaubliche Kreativität," so die Schulpsychologin. „Symptome wie Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität sind die wichtigsten," so Dr. Christoph Löffler. Liegen diese vor, müsste eine genaue und langwierige Untersuchung erfolgen: Zunächst würde ein Gespräch mit den Eltern, Lehrern oder Erziehern geführt werden. Dem schließt sich ein Gespräch mit dem Kind an. Die Eltern, Lehrer oder Erzieher erhalten Fragebögen, welche es erfordern, die Verhaltensweise des Kindes zu beobachten und zu kommentieren. Eine körperliche Untersuchung des Kindes trage zur endgültigen Diagnostik bei. Leidet das Kind unter einer Aufmerksamkeitsstörung, müsste der Verlauf dieser stets kontrolliert werden. „Die endgültige Diagnose braucht Zeit," gesteht Dr. Christoph Löffler. Eine medikamentöse Behandlung mit Ritalin müsse in Absprache mit den Eltern abgewogen werden. Vor der Diskussion stellten sich die einzelnen Fachleute vor: Dr. Franz Beblo, Leiter des Gesundheitsamtes Dingolfing und Schularzt, führt Einschulungsuntersuchungen durch. Dadurch komme er in „Erstkontakt" mit Kindern, die unter einer Aufmerksamkeitsstörung leiden. Erstaunlich sei, dass in den letzten Jahren bereits bei groben Tests mehr und mehr Kinder diese Störungen zeigen. In diesen Fällen empfehle er weitere Untersuchungen. Christiane Kagerbauer ist Lehrerin an der Schule für Kranke im Bezirkskrankenhaus Landshut. In ihrer Klasse befinden sich auch Kinder mit Aufmerksamkeitsstörungen. „Wichtig ist es, möglichst viel von den Kindern zu wissen, um diesen nicht hilflos gegenüber zu stehen." Mittels Literatur und den eigenen Erfahrungen habe sich die Lehrerin Wissen über ADHS angeeignet. Den betroffenen Kindern müsse das Gefühl vermittelt werden „du bist in Ordnung in deiner Person. Nicht in deinem Verhalten". Die Lehrer müssten darauf Impulse der Verhaltenstherapie im Umgang mit diesen Kindern anwenden. Manfred Madersbacher, Lehrer bei der Mobilen Erziehungshilfe, betreut Kinder, die Probleme im Verhaltensbereich haben oder machen, darunter auch Kinder mit Aufmerksamkeitsstörungen. Weiter beobachtet er dass den betroffenen Eltern zwei zentrale Dinge vorgeworfen werden: „Die Eltern werden häufig als Erziehungsversager abgestempelt. Werden dem Kind Medikamente verabreicht, schmeißen Außenstehenden den Eltern vor, den Störenfried mit Medikamenten zu stillen." Seiner Meinung nach müssten betroffene Eltern lange Untersuchungsphasen über das Kind ergehen lassen, damit eine rechte Diagnose getroffen werden kann. Die medikamentöse Behandlung des Syndroms müsse vom Arzt und den Eltern abgewogen werden. Zusätzlich warnte Manfred Madersbacher vor Risiken bei einer Nichtbehandlung des Syndroms, so könne im Jugendalter eine Drogensucht entstehen. Klaus Lermer ist Leiter einer heilpädagogisch orientierten Tagesstätte. „Wenn ein Antrag über das Jugendamt bescheidet wird, können die Kinder zu uns kommen," erklärt Klaus Lermer. Sieben- bis Zwölfjährige besuchen seine Tagesstätte, darunter fünf Kinder mit dem ADHS-Syndrom. „Bei Medikamenten bekommen wir grundsätzlich Bauchweh," so der Standpunkt des Diplom-Pädagogen. So arbeite er im Familienbereich und leiste den betroffenen Familien Unterstützung. Alle Betroffenen lud Klaus Lermer nach Landau in eine Selbsthilfegruppe ein. Dr. Christoph Löffler, Kinder und Jugendpsychiater in Landshut, referierte vor der Podiumsdiskussion über die Symptome der Aufmerksamkeitsstörungen und die langwierige Diagnostik. Märe Müller, Geschäftsführer der Barmer Ersatzkasse, berichtete als betroffener Vater: „Vor zehn Jahren hat mir die Natur ein technisches Wunderwerk beschert. Ein sehr pfiffiges Kerlchen. Dieses wurde immer agiler und redseliger. Er hatte ein Gaspedal, aber kein Bremspedal. Wir haben eine lange Phase der Diagnostik hinter uns. Mein Sohn nimmt nun Medikamente ein. Ich weiß nicht, ob ich oder mein Kind dies ohne Medikamente überlebt hätten. Man muss neu leben lernen und das Kind neu lieben lernen. Wir leben jetzt ein halbwegs vernünftiges Leben mit Höhen und Tiefen, die es gerade so spannend und interessant machen." Brigitte Eder, eine staatliche Schulpsychologin, führte durch den Abend als Moderatorin und referierte vor der Podiumsdiskussion darüber, wie mit betroffenen Kindern umgegangen werden solle. Während der Podiumsdiskussion konnten sich Eltern und Fachleute austauschen: Eine Mutter schilderte die Wütausbrüche ihres vierjährigen Sohnes. Diesen stehe sie hilflos gegenüber. Dr. Christoph Löffler erklärte, dass Wutausbrüche lediglich ein Symptom von ADHS darstellen. Von daher müsste man verschiedene Dinge ausprobieren: Die Umstände, unter denen der Junge der Wut freien Lauf lässt, müssten beobachtet werden. Wenn weitere Hinweise zu ADHS vorhanden sind, sollte eine Untersuchung des Kindes veranlasst werden. Wenn nicht wäre eine Erziehungsberatungsstelle eine erste Anlaufstelle. Eine Mutter erzählte aus ihrer eigenen Erfahrung: „Ich habe einen 16-jährigen Sohn mit dem ADHS-Syndrom. Ich will allen betroffenen Eltern Mut machen." - Mut dazu, eine breit gefächerte Therapie zu beginnen. Dies koste Zeit, allerdings lohne es sich. „Mein Sohn hat Ritalin bekommen. Fünf Jahre unter strenger ärztlicher Kontrolle," berichtet die Mutter. Die medikamentöse Behandlung mit Ritalin wäre nötig gewesen. Viele Außenstehende rieten der Mutter eine alternative Behandlung mit Bachblüten beispielsweise. Dies half nichts. „Es ist nicht alles schlecht, was Chemie ist," meint die Mutter. Marc Müller erwiderte, dass er von seiner Grundeinstellung her Ritalin nicht befürworte, und die Naturheilkunde nicht verteufelt werden dürfe. Der Schulpsychologe des Raumes Dingolfing-Landau und Deggendorf erfragte, wie es zu verstehen sei, dass 30 Prozent der ADHS betroffenen Jugendlichen bei einer Nichtbehandlung drogenabhängig werden könnten. Eine Studie belege, dass eine nicht behandelte Hyperaktivität ein eindeutig erhöhtes Risiko für eine Drogensucht ergebe, erläuterte Dr. Christoph Löffler. „Der Drogengenuss ist eine Art Selbstmedikation," weiß Manfred Madersbacher. Selbst der Genuss von Cannabis könne dazu beitragen, Spannungen abzubauen. Dr. Franz Beblo fügte hinzu, dass Ritalin nicht abhängig mache. Es käme auf die rechte Indikation an. „Viele Leute ziehen den ,Kurzschluss', dass Betäubungsmittel gleich Rauschmittel sind." Ein Medikamentenmissbrauch könne natürlich geschehen, wie mit anderen Medikamenten auch. Eine „einfache Erklärung" lieferte Dr. Christoph Löffler: Es handle sich um einen Dopamin-Mangel im Gehirn. Dopamin ist der Überträgerstoff für die Aufmerksamkeit, der Mangel hat eine Aufmerksamkeitsstörung zu Folge. „ADHS ist eine Störung des Stoffwechsels im Rezeptorenbereich." Dopamin werde von einer Zelle zur anderen Zelle transportiert. Die Übertragung funktioniere eigentlich nach dem Schlüssel-Schloss-Prinzip. Hegt eine Aufmerksamkeitsstörung vor, gäbe es nicht genügend Andockstellen für Dopamin in der Zelle. Barbara Sterr |
Bericht und Foto Barbara Sterr (DA vom 19.11.2003) |